Die illusion eines "Lexit"

Analyse
Author
Marc Botenga
Catalyst / Lava

Nach dem Zusammenbruch der Regierung Syriza und Brexit intensivierten sich die Diskussionen über die Strategie der Linken gegenüber der Union. Lieben wir Europa oder verlassen wir es?

Das Scheitern der griechischen Regierung über ein Ende der Sparpolitik zu verhandeln, hat 2015 die strategischen Debatten innerhalb der europäischen Linken angeheizt. Bei diesen Debatten geht es vor allem darum: Muss die Union demokratisiert werden? Oder ist es notwendig, einen "Lexit" ("Left Eur-exit") zu unterstützen: eine linke Regierung, die außerhalb der Eurozone oder der Union liegt. Über ihre positiven Aspekte hinaus verzichten diese beiden Ansätze völlig auf die Lösung zentraler Fragen von Regierung und Macht. Sie begrenzen den strategischen Horizont der Linken auf ein besseres Management des Kapitalismus. Gibt es eine andere Strategie?

Aussteigen, um vorwärts zu kommen?

Das Gesicht der gegenwärtigen europäischen Integration ist so hässlich, wie die Gebäude ihrer Institutionen grau sind. Brüssel, die Hauptstadt der Europäischen Union, ist ein Symbol dafür. Jeder dritte Einwohner ist von Armut bedroht. Jedes vierte Kind wächst in einer Familie auf, in der niemand einen Job hat. Aber auch wenn man die griechische Katastrophe beiseite lässt, bildet Brüssel keine Ausnahme.  In zehn Jahren hat sich die Zahl der Working Poor in Deutschland verdoppelt. In Italien leben mehr als acht Millionen Menschen unter prekären Bedingungen. In Frankreich sind neun Millionen Menschen, darunter drei Millionen Kinder, arm. Portugal hat zwischen 2011 und 2014 eine halbe Million Werktätige verloren. In der Zwischenzeit verstecken Ultra-Reiche sowie/und große Großunternehmen Berge von Gold und Silber in Steueroasen.

Vor diesem Hintergrund hat das europäische Establishment die Sparmaßnahmen nur noch verstärkt. Jeroen Dijsselbloem, Präsident der Eurogruppe zwischen 2013 und 2018, entblödet sich nicht, dies gutzuheißen: "Sie kennen den Ausdruck ‚Vergeuden Sie keine gute Krise‘; nun, wir haben diese Krise nicht vergeudet".
Darüber hinaus haben die Dogmen von des „Jeder gegen Jeden“, aus denen die europäischen Verträge hervorgehen, den Aufstieg einer starken fremdenfeindlichen Rechten gefördert. Die soziale und ökologische Krise ist enorm. Aber die Merkels und Macrons dieser Welt wollen weitermachen, als sei nichts geschehen.

"Um es klar zu sagen: Nicht erst jetzt ist die Europäische Union zu einem ungemütlichen Ort für fortschrittliche Menschen geworden. Eigentlich war sie das schon immer“ (1), schrieb Ferdi De Ville nach der Kapitulation der griechischen Regierung von Alexis Tsipras Mitte Juni 2015 an die Gläubiger in der Troika. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Idee, die EU zu verlassen, für die radikale Linke attraktiv ist. Cedric Durand fasst das Gefühl der Befürworter eines linken Ausstiegs gut zusammen:"[....] Die politische Entscheidung, die wir treffen müssen, besteht entweder darin, wie in Griechenland eine Niederlage im Namen der Illusion zu akzeptieren, Europa zu verändern, oder darauf vorbereitet zu sein, mit der Veränderung im fortgeschrittensten Land zu beginnen. Um zu zeigen, dass es tatsächlich Alternativen gibt, ist ein Ausstieg aus der Währung oder deren Auflösung notwendig. Soziale Gerechtigkeit, ökologischer Wandel und echte Demokratie sind machbar. Aber nur außerhalb des Euro-Gefängnisses.» (2)  Durand ist nicht allein, wenn es darum geht, konkrete Alternativen vorzuschlagen. Joseph Stiglitz hat ein Buch über das Thema geschrieben. (3) Wolfgang Streeck setzt sich für eine europäische Bretton Woods ein. (4) Frederic Lordon schlug vor, den Euro aufzulösen, um eine gemeinsame Währung ohne Deutschland zu schaffen. (5) Costas Lapavitsas hat einen Plan für einen schuldnergeführten Ausfall aufgestellt, kombiniert mit einem schrittweisen Ausstieg aus dem Euro. (6)

Sagen wir mal, dass für die radikale Linke die Annahme dieses Rahmens eine wichtige Falle darstellt. Die Konzentration auf die vielen Mängel des Euro und der Europäischen Union birgt die Gefahr, den systemischen wirtschaftlichen und politischen Kontext zu verschleiern. Doch es ist der Kapitalismus und nicht der Euro oder die Europäische Union, der die tiefen wirtschaftlichen, ökologischen, demokratischen und kulturellen Krisen der Gegenwart miteinander verknüpft. Um diese Krisen zu bewältigen, bedarf es einer völlig anderen Gesellschaft, frei von den Dogmen der Konkurrenz und des Marktes. Natürlich lohnt sich die Frage dennoch: Wird eine Kampagne für den Austritt aus der Europäischen Union oder dem Euro den Kampf für diese neue Gesellschaft erleichtern oder behindern?

Aussteigen: die Stärke einer Idee

Fünf Überlegungen spielen eine zentrale Rolle in der Verführungskraft eines linken Ausstiegs. ( 1) Linke Politik ist mit den europäischen Verträgen unvereinbar. ( 2) Nationalstaaten, die von linken Regierungen geleitet werden, können ein Bollwerk gegen den Neoliberalismus bilden. ( 3) Die Machtverhältnisse sind in einigen Mitgliedstaaten günstiger. Auf nationaler Ebene können wir zeigen, dass es Alternativen gibt. ( 4) Die Europäische Union spielt die Völker gegeneinander aus. Ausstieg zugunsten eines echten Internationalismus? ( 5) Eine paneuropäische Bewegung ist in naher Zukunft unwahrscheinlich.

Beginnen wir mit dem ersten Punkt. Die Unvereinbarkeit ist real, daran besteht kein Zweifel. Die Umsetzung eines linken Programms wird unweigerlich zu einem Konflikt mit dem europäischen Rahmen führen, was die Gefahr einer Erpressung nach griechischem Vorbild oder das Ende der Mitgliedschaft in der EU mit sich bringt. Oftmals präsentieren Anhänger einer Exit-Strategie dann eine dreistufige Taktik. Erstens wird eine radikale linke Partei in die Regierung gewählt.

Die europäischen Partner gestatten die Durchführung einer linken Politik  (Plan A), wenn nicht  würde das Land dann die Eurozone (Plan B) verlassen. Nachdem sie sich den unvermeidlichen Umwälzungen nach einem solchen Ausstieg gestellt hatte, würde die linke Regierung dann im Wesentlichen keynesianische Politiken umsetzen und die Unterstützung der Bevölkerung einfordern. Für Costas Lapavitsas werden solche Maßnahmen die Arbeiterschaft der Lohnabhängigen gegenüber dem Kapital stärken und eine sozialistische Perspektive für den Kontinent bieten. (7)

Dieses Szenario basiert auf der weit verbreiteten Illusion des Wandels durch die Wahlurne, der zur Ablehnung der europäischen Verträge führe. Abgesehen all ihrer Mängel haben diese Verträge jedoch an sich wenig Macht. So wie die amerikanische Verfassung einen sozialistischen Staat in Vermont nicht behindert, sind es nicht die europäischen Verträge, die die linke Politik blockieren. Sie sind ein Ausdruck und verstärken bis zu einem bestimmten Grad die bestehenden Machtverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit. Wenn es andere Machtverhältnisse gäbe, würden diese Texte ignoriert oder auf den Kopf gestellt werden. Die Bewertung der europäischen linken Regierungen seit 1945 veranschaulicht die These, dass eine Konfrontation mit dem nationalen und europäischen Kapital die Eroberung der Macht durch die Mobilisierung und die Organisation einer beträchtlichen Gegenmacht erfordert und nicht allein die Eroberung der Regierung. (8)

Viele Anhänger des Exits erkennen die Notwendigkeit einer solchen Gegenmacht. Aber sie vernachlässigen einen wichtigen Aspekt: Der Aufbau einer solchen Gegenmacht kann nicht auf die Entstehung einer radikalen linken Regierung warten. Nach den Wahlen sind die Aufrufe zur Mobilisierung der Bevölkerung zu spät. Die Tatsache, dass die Begrenztheit einfachen Wahlverhaltens nicht von Anfang an in die Strategie einer Partei integriert werden, verstärkt auch die Illusion, dass Veränderungen durch eine Wahl stattfinden können. Hier wird die Einsicht ignoriert, die vorherige Organisation einer Volksbewegung in den Mittelpunkt der politischen Aktivität zu stellen.  

Trotz ihrer Kritik an Syriza halten die Anhänger dieser Exit-Strategie an einer der wichtigsten taktischen Entscheidungen der griechischen Partei fest: dem Pragmatismus, an die Regierung zu kommen, auch auf Kosten der Verbreiterung der Basis der Partei und der Organisierung einer Gegenmacht von unten.
Auch wenn es durchaus sinnvoll ist, bei der Vorbereitung auf die Übernahme von Regierungsverantwortung die Möglichkeit eines Ausstiegs zu antizipieren, werden die wirtschaftlichen Maßnahmen zur Steuerung eines solchen Ausstiegs wahrscheinlich zu spät greifen.So würde beispielsweise die Kapitalflucht beginnen, sobald die Wahrscheinlichkeit eines Wahlsiegs bevorsteht. (9) Während  eine linke Regierung sie frühestens nach ihrer Wahl behindern könnte. Die Verstaatlichung ist ein wesentliches Instrument, aber nicht immer ein Allheilmittel, insbesondere wenn einige Fabriken nur Glieder einer internationalen Produktionskette sind.

Das Bollwerk der sozialen Gerechtigkeit?

Die Frage der Machtverhältnisse führt uns zum zweiten Argument für einen Ausstieg. Nationalstaaten würden ein Bollwerk gegen große europäische Unternehmen oder gegen europäisches oder gar internationales Kapital darstellen. Die Kämpfe um die Wahrung der sozialen Rechte werden hauptsächlich, aber nicht immer, auf nationaler Ebene geführt. Das sagt jedoch nicht viel über den Nationalstaat aus. Es sind nicht die Nationalstaaten und ihre herrschenden Klassen, die in Bezug auf die sozialen Rechte großzügig waren. Im Gegenteil, sie taten, was sie konnten, um diese einzudämmen. Diese Rechte wurden durch Klassenkampf errungen. Es waren nichts anderes als unvermeidliche Zugeständnisse an eine starken Arbeiterbewegung. Sobald die Machtverhältnisse verändert waren, folgten andere Richtlinien. Der britische Staat war kein Schutz gegen den Liberalisierungsrausch Margaret Thatchers.

Die europäische Integration ist ein Instrument im Dienste des europäischen Kapitals, und gerade die Regierungen dieser Nationalstaaten haben die Europäische Union im Sinne der Großunternehmen aufgebaut. Von der Montanunion (Kohle- und Stahl) bis hin zu den Mechanismen der Wirtschaftssteuerung des Lissabon-Vertrags sind es die nationalen, sozialdemokratischen und rechtsgerichteten Regierungen, die auf Betreiben des Kapitals die entscheidenden Kräfte für die europäische Integration waren. Noch heute werden die Beschlüsse, so wie sie sind, vom Rat, dem zwischenstaatlichen Organ der Union, vorgenommen. Die europäischen Nationalstaaten sind keine Bastionen gegen das Kapital, sondern stärken und schützen unaufhörlich die Interessen großer multinationaler Unternehmen.

Dieses Argument für den Ausstieg steht im Einklang mit dem Mythos der "Rückkehr zur Macht" auf nationaler Ebene. Dieser Slogan wirft eine wichtige Frage auf. An welchem Punkt hatten die Völker genau Macht, z.B. in den westeuropäischen Ländern? Bis zu welcher Epoche müssen wir zurück gehen? Die Exit-Kampagnen fördern somit eine klassenlose Abstraktion des Nationalstaates. Quantitativ gesehen kann das Kapital auf europäischer Ebene ein bedeutenderes Machtgewicht haben als in einigen Nationalstaaten. Hinsichtlich des grundlegenden Klassencharakters gibt es jedoch keinen qualitativen Unterschied zwischen dem entstehenden europäischen supranationalen Staat und einzelnen Mitgliedstaaten. Solange internationales Kapital und transnationale Unternehmen die politische Agenda bestimmen, wird ein unabhängiges Belgien, Deutschland oder Italien nicht wirklich sozial oder demokratisch sein.  

Aber wie sieht es mit einem Ausstieg unter der Führung einer linken Regierung aus? Könnte es ein einzelnes Land in ein soziales Paradies verwandeln? Ohne mit dem Kapitalismus zu brechen, würde ein "unabhängiges" Land mit seiner linken Regierung immer noch im Wettbewerb mit einem riesigen kapitalistischen Wirtschaftsblock direkt nebenan stehen. Ein solcher Wettbewerb "erfordert" wahrscheinlich Opfer und noch strengere Austerität, wenn man den eigenen nationalen Unternehmen eine Chance geben will. Mit anderen Worten, der Exit allein kann sich weder dem globalen Kapitalismus noch dem harten Wettbewerb entziehen.

Varoufakis und Galbraith haben Recht, wenn sie sagen, dass unter kapitalistischen Bedingungen"die kleinen Länder Europas genauso anfällig für die spekulativen Kursbewegungen ihrer Währungen sind, abhängig von den Launen internationaler Investoren und ihrer lokalen Oligarchien wie zuvor". (10) Paul De Grauwe, Ökonom an der London School of Economics and Political Science, brachte das Paradoxon treffend zum Ausdruck: "Wenn das Vereinigte Königreich die EU verlässt, um mehr Souveränität zu erlangen ("um die Kontrolle zurückzuerlangen"), wird dieser Vorteil nur in einem formalen Sinne erzielt. Tatsächlich nimmt aber seine tatsächliche Souveränität ab. Das Gleiche gilt für Katalonien.» (11) Auch ohne De Grauwes leidenschaftliche Verteidigung für mehr Souveränitätsübertragungen zu befürworten, verdient das Paradoxon Beachtung.

Auch im Rahmen eines Nationalstaates sollte die Linke die gesellschaftliche Macht übernehmen, nicht nur die Regierung. Eine linke Regierung wird sich nicht einmal auf ihre hohen Beamten verlassen können.  Es ist nicht nötig, auf die Theorien des "Deep State“/„Staat im Staate“, der Gladio-Netzwerke oder der italienischen P2 zurückzugreifen, um diese These zu veranschaulichen. Die griechische Regierung Syriza konnte ihren eigenen Beamten nicht mehr vertrauen, die häufig Dokumente an die deutschen Verhandlungsführer weitergaben. Mehrere europäische Partner haben sich aktiv für einen Regierungswechsel in Griechenland eingesetzt. Was hätte die griechische Militärpolizei im Falle von Unruhen getan? (12) Ein britischer General warnte kürzlich ganz offen den britischen Labour-Führer Jeremy Corbyn, dass ein Versuch, sich aus der NATO zurückzuziehen oder die nukleare Abschreckung zu beseitigen, eine massive Rücktrittswelle in der Armee auslösen könnte und „ die durchaus realistische Möglichkeit, dass eine Meuterei einsetzen könnte.“   

Ein Schlachtfeld, dem niemand entkommen kann.

Das dritte Argument hat eine klare materielle Grundlage. Das Kräfteverhältnis zwischen Arbeit und Kapital ist in einigen europäischen Ländern zweifellos günstiger als auf kontinentaler Ebene. Wie übrigens in einigen Regionen, die "weiter links" stehen als in "rechten" Ländern. Daher wäre es nach diesem Argument der einfachste Weg, mit den Verträgen zu brechen oder einen Sieg der der Lohnabhängigen über das Kapital zu erringen. Das könnte den Kampf in diesen Mitgliedstaaten befeuern. Sich das entsprechende Schlachtfeld sowie die Schlachten auszuwählen könnte eine gute Strategie sein.

Aber es ist ein Illusion zu glauben, dass die europäischen Machtverhältnisse umgangen werden können. Die europäischen Volkswirtschaften sind hochgradig und zunehmend vernetzt. Nach Schätzung gehen etwa zwei Drittel der aus einem Mitgliedstaat ausgeführten Waren und Dienstleistungen in andere Mitgliedstaaten. Im Jahr 2010 stammten etwa 70 % der ausländischen Direktinvestitionen, die in die unterschiedlichen EU-Mitgliedstaaten flossen, aus anderen europäischen Ländern. (13) Vor allem aber gibt es eine Vernetzung auf der Produktions- und Vertriebsebene. Kurzfristig hätte ein Ausstieg dramatische Folgen. Claus Offe und Yannis Varoufakis geben zu, dass der Euro ein Fehler war, betrachten aber die Kosten für die Rückabwicklung als zu hoch und schätzen daher die Möglichkeit einer solchen Rückabwicklung für eingeschränkt!  So Joseph Stiglitz: "Die Regierungsmitglieder wüssten genau, dass es Chaos geben würde in dem Moment der Entscheidung, die Währung zu verlassen. Und sie wüssten ebenso, dass sie wahrscheinlich von der „Macht“ vertrieben würden.“
Heinrich Flassbeck und Costas Lapavitsas wählen zugunsten eines Exits eine euphemistischere Formulierung: "Es kann nicht genug betont werden, dass der Weg des konfrontativen Exits politische Legitimität und aktive Unterstützung der Bevölkerung erfordert.» (14)

Weder die rasche Abwertung der neuen Währung noch die Kapitalkontrolle würden Engpässe verhindern. Was auch immer der einseitige Schuldenerlass bringen kann, er würde in den ersten Monaten nach dem Ausstieg nicht viel weiter helfen.

Sehr oft wird ein Land, das erwägt, die EU zu verlassen, als eine Insel betrachtet, die in der Lage wäre, jede wirtschaftliche Entscheidung eigenständig treffen zu können. Stellen Sie sich ein Land vor, das unter der Führung einer linken Regierung die Union oder die Eurozone verlässt. Formal würde es nicht mehr unter dem Druck der europäischen Wirtschaftsregierung stehen. Doch den anderen Mitgliedstaaten würden auf Wunsch ihrer Großunternehmen nicht die Mittel fehlen, um Druck auf das Rebellenland auszuüben. Die Gegner des ausscheidenden Staates würden sofort die unmittelbaren wirtschaftlichen Auswirkungen eines Exits nutzen. Im Jahr 2015 reduzierte die Europäische Union die Griechenland zur Verfügung gestellten Mittel, um es zu zwingen, den Anordnungen unverzüglich Folge zu leisten. Stellen Sie sich vor, dass der Einsatz höher ist. Stellen Sie sich vor, dass das gesamte soziale und wirtschaftliche Modell auf dem Spiel stehen würde. Keine der kapitalistischen Regierungen um den neuen, wirklich sozialen und demokratischen Staat herum würde das erfolgreiche Entstehen einer Alternative tolerieren. Die Blockade des Zugangs zur Liquidität wäre lediglich die erste Sanktion. Einer Sanktion, der es schwierig aber vielleicht nicht unmöglich wäre, teilweise mit einer sofortigen sauberen Währung zu begegnen. Aber was dann? Belgien importiert derzeit rund 80% seines Energiebedarfs. Wenn es selbst die Kontrolle über seine Produktion übernehmen würde, riefe es sicherlich eine Reaktion der multinationalen Energieriesen und ihrer Staaten hervor. In Griechenland und Spanien wird die Übernahme der Kontrolle über die Industrieproduktion angesichts der derzeitigen Situation dieser Branchen wahrscheinlich nicht einmal ausreichen, zumindest nicht kurzfristig. Dass eine Regierung unter solchen Umständen auf die aktive Unterstützung seines Volkes angewiesen wäre, ist noch untertrieben.

Der internationale politische und wirtschaftliche Druck hätte einen sehr negativen Einfluss auf die nationalen Machtverhältnisse innerhalb des ausscheidenden Landes. Zumindest sollte es eine breite europäische Solidaritätsbewegung mit diesem Land geben. Es reicht daher nicht aus, sich gut auf die Teilnahme an der Macht (und nicht nur an der Regierung!) in einem Land vorzubereiten. Gleichzeitig muss eine europäische Bewegung gebildet werden. Der relative Grad der Einheitlichkeit des Kapitals lässt es nicht zu, den Aufbau einer Gegenmacht auf einen einzigen Nationalstaat zu beschränken.

Konzentration auf soziale Widersprüche

Ein viertes Argument für eine Ausstiegs-Strategie betrifft gerade den Aufbau der internationalen Solidarität. Die Union und die Eurozone tun alles, was in ihren Kräften steht, damit die Arbeiter zueinander in Konkurrenz treten. Die Politik und deren Strukturen verstärken Ungleichheiten und Ressentiments beispielsweise gegenüber polnischen Arbeitern im Vereinigten Königreich. Nach Ansicht der Anhänger des Brexit würde ein Austritt aus der Eurozone oder der Europäischen Union diesem Mechanismus ein Ende setzen und die Entstehung einer echten Solidarität ermöglichen. Dies ist eine einseitige Erklärung, um es vorsichtig auszudrücken. Natürlich bringt jede Marktwirtschaft die Arbeiter in Konkurrenz zueinander.

Aber gleichzeitig bringt die Vereinigung der Märkte sie auch zusammen. Der europäische Binnenmarkt und die Eurozone bilden da keine Ausnahme. Im Jahr 2006 trug die Unterstützung der deutschen Arbeiter von Volkswagen Wolfsburg für ihre streikenden belgischen Kollegen dazu bei, die vollständige Schließung des Volkswagenwerks, jetzt Audi, in Brüssel zu verhindern. Als Ford 2014 beschließt, eine Fabrik in Belgien zu schließen, ziehen einige der Arbeiter in der spanischen Stadt Valencia nach Norden, um ihre Solidarität anzubieten. Ihr Diskurs, sicherlich avantgardistisch, basierte sehr stark auf einem gemeinsamen Klasseninteresse. Ein spanischer Gewerkschafter hat sich ausdrücklich geweigert auszusprechen, dass er Glück  habe, weil in Spanien keine Arbeitsplätze verloren gegangen seien: "Nein, wir hatten Pech, wir verlieren viele Kollegen !“ Die geplante Schließung eines Caterpillar-Werks in Gosselies im Jahr 2016 und die geplanten Entlassungen bei Carrefour im Jahr 2018 haben wiederum die Solidarität zwischen französischen und belgischen Kollegen geschaffen. Vielleicht kommt das beste Beispiel von den Dockarbeitern. Seit 2002 haben die europaweiten Mobilisierungen von Hafenarbeitern die Pläne der Europäischen Kommission zur Liberalisierung ihrer Arbeitsbedingungen und des Zugangs zu ihrem Beruf zurückgedrängt. Es wurden zwei europäische Richtlinien verabschiedet, eine dritte hat den ursprünglichen Inhalt geändert. Weit davon entfernt, den Wettbewerb zwischen den Häfen zu akzeptieren, den die Kommission und die Hafenbehörden verschärfen wollten, haben sich die Arbeiter auf gemeinsame Klasseninteressen geeinigt. Diese Erfahrungen sollten nicht idealisiert werden, aber jede linke Strategie muss darauf abzielen, diese Beispiele transeuropäischer Klassensolidarität zu vertiefen und zu erweitern.

Würde der Kampf um einen Austritt aus der EU die europäische Solidarität erleichtern? Könnten unabhängige Nationalstaaten nach einem Ausstieg einen Raum des Friedens, der demokratischen Zusammenarbeit und der Solidarität aufbauen? Auch wenn wir den Klassencharakter dieser neuen "unabhängigen" Staaten beiseite lassen, widerspricht dieses Argument dem gesunden Menschenverstand. Im wahrscheinlichsten Fall wird eine Exit-Strategie zu mehreren nationalen kapitalistischen Systemen und Märkten führen. Nationale Märkte und ihre gegenseitig konkurrierenden Staaten sind weniger und nicht besser geeignet, internationale Solidarität zu schaffen als ein einheitlicher Markt. Und selbst wenn ein ausscheidendes Land in großen Turbulenzen eine andere Sozialpolitik  umsetzen würde, gibt es keinerlei Hinweis darauf, dass diese Entscheidungen das Kräfteverhältnis in Europa wesentlich verändern könnte.

Selbst diejenigen, die eine Exit-Strategie unterstützen, glauben nicht daran. Eines ihrer Argumente ist gerade, dass es besser ist, auf nationaler Ebene zu kämpfen, da eine Bewegung auf europäischer kontinentaler Ebene unwahrscheinlich ist. Angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Folgen ist es unwahrscheinlich, dass ein Ausstieg die Menschen davon überzeugen würde, dass dies der richtige Weg ist. Der mögliche wirtschaftliche Zusammenbruch des ausscheidenden Staates, auch wenn es nur kurzfristig wäre, könnte bei den Bürgern anderer Mitgliedstaaten das Gefühl verstärken, dass keine Alternative existiert. So wie das europäische Establishment derzeit die Probleme in Großbritannien dazu nutzt, darauf hinzuweisen, was für ein Fehler ihrer Meinung nach der Brexit war. Oder wie die Rechte die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Venezuelas nutzt, um die Linke anzugreifen.

Im Kampf um den Exit rückt die europäische Zusammenarbeit ebenso in den Hintergrund wie die sozialen Forderungen auf europäischer Ebene. Eine Exit-Kampagne könnte sogar das Machtungleichgewicht verschärfen, indem sie sich ausschließlich auf nationale Interessen und nicht auf soziale Fragen konzentriert. Die Kampagne für die Unabhängigkeit Kataloniens ist dafür ein gutes Beispiel. Noch vor wenigen Jahren hat der Kampf gegen die Sparpolitik Millionen spanischer Bürgerinnen und Bürger auf die Straße gebracht. Während des katalanischen Wahlkampfes 2015 mussten auch die Konservativen soziale Versprechungen machen. Während der katalanischen Krise hingegen waren die Aufrufe der fortschrittlichen Bürgermeisterin von Barcelona oder linker Kräfte, über Austerität oder Korruption zu diskutieren, weitgehend ungehört geblieben, versteckt hinter den jeweiligen Fahnen der spanischen Nationalisten oder der Unabhängigkeitskämpfer Kataloniens. Sowohl der spanische Premierminister Mariano Rajoy als auch der katalanische Führer Carles Puigdemont begrüßten dies. Puigdemont nutzte sein Exil in Belgien dazu, der N-VA die Möglichkeit zu geben, Konferenzen zum Thema "Wie man die sozialistische Hegemonie durchbrechen kann“ abzuhalten. (15) Die Brexit-Debatte hat dem Establishment Munition gegen den linken Labour-Führer Jeremy Corbyn  gegeben, was eine willkommene Ablenkung von seiner sozialen und wirtschaftlichen Agenda darstellte.

Einige gehen sogar so weit zu vermuten, dass sich die deutschen Werktätigen endgültig den Strategien der Herrschenden ergeben haben. (16) Die Streikwelle der IG Metall im Januar 2018 beweist allerdings, dass diese Aussage falsch ist. Es besteht auch eine große Gefahr, wenn man eine solche Argumentation gelten lassen würde.  Statt Einheit und Solidarität unter den europäischen Arbeiterklassen zu fördern, verstärken diese Argumente den antideutschen Nationalismus in Ländern der europäischen Peripherie.

 Würden griechische und deutsche Arbeiter sich näher kommen, wenn Griechenland Deutschland auffordern würde, eine Grexit finanziell zu unterstützen? Würde eine Kampagne für die wallonische Unabhängigkeit  Belgiens das Klassenbewusstsein oder die Einheit der Arbeiterbewegung verbessern? Welche Auswirkungen haben die schottischen oder katalanischen Unabhängigkeitsbewegungen auf die Stellung der Arbeiter in diesen Ländern gehabt? Inwieweit würde eine IG Metall-Kampagne gegen den rechtskonservativen reaktionären bayerischen Staat die allgemeine Situation der deutschen Werktätigen verbessern? Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass dies die Arbeitsbewegung weiter spalten würde.

Die Illusion einer europäischen Bewegung?

Die Unmöglichkeit, eine breite europäische Bewegung hervorzubringen, vervollständigt die Argumente für einen Austritt aus der EU. Die Möglichkeit eine solche Bewegung in Erwägung zu ziehen, wäre ein tödlicher Schlag für alle anderen Argumente, die für einen Ausstieg sprechen. Die Aufspaltung ist unbestreitbar. Es ist in der Tat die Zersplitterung der europäischen Arbeiterbewegung in Bezug auf die relative Einheit des europäischen Kapitals, die dazu beigetragen hat, dass die europäische Integration ihre heutige Form angenommen hat. Die Schwäche dieses Arguments liegt daher nicht in seiner Feststellung. Sie liegt in ihrer Tendenz, den aktuellen Zustand zu festzuschreiben und mit einem eher überraschenden Fatalismus zu akzeptieren.

Diejenigen, die vom Potenzial der europäischen Bewegung der Hafenarbeiter oder gegen die Freihandelsabkommen überzeugt waren, erhielten im Jahr 2017 die Bestätigung: Die Zersplitterung ist alles andere als unvermeidlich. Eine multinationale Koalition von Piloten und Mitarbeitern der Billigfluggesellschaft Ryanair hat Wege gefunden, die Maßnahmen zwischen 87 (!) Standorten in Europa zu koordinieren. Gleichzeitige Streiks in Deutschland und Italien haben Amazon getroffen. Im Jahr 2017 war Deliveroo mit 39 Streiks in 20 Städten in 7 Ländern vertreten. Die potenzielle Zulassung von Monsanto-Glyphosat hat mehr als eine Million Menschen auf dem ganzen Kontinent gegen das krebserregende Pflanzengift mobilisiert. Der Bonner Klimagipfel 2017 hat Menschen aus ganz Europa veranlasst, in die ehemalige Hauptstadt der Bundesrepublik zu kommen.

Es ist wahr, dass die sozialen Bewegungen allzu oft in ihrem Widerstand isoliert bleiben, während ihre Gegner mit einer einzigen europäischen und neoliberalen Stimme sprechen. Das muss sich ändern! Bereits immer mehr Parteien, Bewegungen und Gewerkschaften stellen radikale und demokratische Forderungen an die Europäische Union, um die Situation der Lohnabhängigen in Europa zu verbessern. Europa ist zu einem Schlachtfeld geworden. Indem die radikale Linke sich auf den Slogan des Austritts  aus der EU beschränkt, überlässt sie den täglichen Kampf um die europäischen Themen denjenigen, die den Menschen vermitteln wollen, dass die Europäische Union zu einer sozialen, demokratischen, ökologischen und menschenfreundlichen Staat reformiert werden könnte. Sie überlässt sie denen, die lediglich um ein paar Brotkrumen betteln, statt auf die gesamte Bäckerei zu setzen.

Den Staatsapparat reformieren?

Wenn die Kampagne für einen Ausstieg aus der EU nicht wünschenswert ist, sollten wir uns dann für die Reform des bestehenden europäischen Apparats einsetzen? Die Sozialdemokratie möchte unseren Horizont auf diesen Anspruch beschränken. Durch eine Reform könnte die Europäische Union ihrer Meinung nach ein Werkzeug für das Wohl der Menschen und ihrer sozialen Rechte auf dem Kontinent werden sowie ein globales Gegengewicht zur amerikanischen Vorherrschaft bilden. Rechtfertigt die institutionelle Entstehung der Union eine solche Vision?

Der derzeitige Mechanismus der Union ist bei weitem nicht vollständig und voller Widersprüche. Das ganze Projekt könnte durchaus auseinander brechen und sich auflösen. Dennoch hat das Establishment riesige Schritte in Richtung  der Bildung eines zentralen Staatsapparates gemacht. Das Europäische Parlament, ein föderales, direkt gewähltes Organ, und der Rat, sein zwischenstaatliches Organ, fungieren als zwei quasi-legislative Kammern, obwohl sie kein Recht auf Gesetzesinitiative haben. Die Europäische Kommission ist eine dopierte Exekutive. Die Europäische Zentralbank hat die Geldpolitik wieder aufgenommen. Die Regeln der Wirtschaftsführung und die Sanktionsmechanismen rauben den Staaten der europäischen Peripherie den Atem.

Eine gemeinsame Grenzschutztruppe (Frontex) ist im Einsatz. Eine noch nicht vollständig entwickelte europäische Armee wird vielleicht bald gebildet.
Noch mehr als die gemeinsame Zollunion unter Führung des deutschen Staates, steht vielleicht die Schaffung eines Binnenmarkts im Mittelpunkt der Bildung eines europäischen Staates. Der europäische Binnenmarkt richtet sich damit nach der historischen Entwicklung der kapitalistischen Märkte. Als das feudale System der örtlich begrenzten Produktion zu Ende ging, wurden die  Zölle zu Hindernissen für die neue Kapitalistenklasse. Das Manifest der Kommunistischen Partei brachte es treffend auf den Punkt:  „Die Bourgeoisie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktions- mittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation. Unabhängige, fast nur verbündete Provinzen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse, eine Douanenlinie. „ (MEW 4, S. 467)

Aufstrebende oder entwickelte Nationalstaaten hatten die öffentliche Politik zentralisiert, ihre eigenen Zollanforderungen festgelegt und eine geschickte Mischung aus Freihandel und Protektionismus genutzt, um ihre eigenen Märkte zu schützen und ihre Unternehmen zu unterstützen. Dann dominierten Monopole ganze Industriezweige, und schon bald reichte es nicht mehr aus, stärkste Nation zu sein. Fusionen und Übernahmen haben riesige transnationale Unternehmen hervorgebracht, die sich heute der Fragmentierung der kleinen europäischen nationalen Märkte widersetzen und so einen fruchtbaren Boden für einen europäischen Binnenmarkt schaffen. Natürlich waren auch andere Faktoren beteiligt. So hoffte die französische Industrie beispielsweise die wettbewerbsfähigere deutsche Stahlindustrie unter Kontrolle zu halten, nachdem sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht die Kontrolle über das Ruhrgebiet erlangen konnte. Auch die Vereinigten Staaten und die amerikanische Konzerne haben ihren Teil dazu beigetragen. (17)

Auch wenn die nationalen Industrieinteressen  von schwankender Bedeutung bestehen geblieben sind, ist die Notwendigkeit einer verstärkten europäischen Zusammenarbeit in der europäischen Wirtschaftselite allmählich unumstritten geworden. Die Krise von 1973 bekräftigte die Dringlichkeit der europäischen Integration durch die Schaffung größerer Märkte sowohl geografisch als auch nach Wirtschaftszweigen. Die Errichtung des Binnenmarkts geht über die Beseitigung nationaler Hindernisse für den ungehinderten Kapital- und Dienstleistungsverkehr weit hinaus. Sie unterwirft auch immer mehr Sektoren der Privatisierung und Liberalisierung. Die Arbeitsplätze in den Bereichen Kohle, Textil, Stahl, Glas und Schiffbau wurden auf dem Altar der Aktionäre geopfert.

Ein Instrument des europäischen Kapitals

Die Rolle des europäischen Kapitals bei der Konzeption der europäischen Integration kann nicht genug betont werden. Wenn heute das deutsche Kapital an der Spitze steht, ist der europäische Aufbau keineswegs ein einfaches deutsches Projekt zur Eroberung Europas. (18)
.In den späten 1970er Jahren, als die europäische Integration ins Stocken zu geraten schien, trafen sich die Vorstandsvorsitzenden von 17 europäischen Giganten wie Siemens, Thyssen, Philips, Fiat oder Volvo, um die europäische Integration wieder in Gang zu bringen. Gemeinsam gründeten sie den European Round Table of Industrialists (ERT). (19)

Im Nachhinein können wir die Auswirkungen ihres Projekts von 1985, mit dem Namen Europa 1990, nicht genug betonen: eine Agenda für Maßnahmen, die 1992 zum Gründungsvertrag von Maastricht führte. An der ersten ERT-Sitzung nahmen François-Xavier Ortoli und Étienne Davignon, Vertreter der Europäischen Kommission, teil. Einige Jahre später führten Ortoli und Davignon den Vorsitz der vom ERT gegründeten Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, kurz offiziell EGKS, ehemals Montanunion.

Sie sind auch als Manager von Total und Société Générale de Belgique zu ERT gekommen. Jahre später lobte Jacques Santer, damals Präsident der Europäischen Kommission, die Lobbying-Initiative des ERT: "Heute Abend fühle ich mich wirklich wie zu Hause, mit Freunden. Als ich 1995 Kommissionspräsident wurde, war die ERT mehr oder weniger das einzige Organ, das uns in unserer festen Überzeugung, dass die einheitliche Währung Realität werden würde, unterstützte. Es ist wie ein Heimspiel.“ (20)

Für die ERT-Mitglieder war der Binnenmarkt nicht ausreichend. "Japan hat eine Währung. Die Vereinigten Staaten haben eine einheitliche Währung. Wie kann die Gemeinschaft mit zwölf leben", heißt es im ERT-Bericht von 1991 über die Neugestaltung Europas.
Eine gemeinsame Währung würde die Angleichung der Preise, Zinssätze, Haushalte und Löhne in den verschiedenen europäischen Ländern erleichtern. Die europäischen Vorstandsvorsitzenden wollten ein wirksames Instrument, um die Welt nach ihrer Vorstellung zu formen.
"Kein einziges europäisches Land kann die Gestaltung der Welt allein entscheidend beeinflussen", betonte der Bericht. Das  europäische Kapital  wusste, dass sie ohne einen größeren Markt, eine einheitliche Währung und letztlich einen europäischen Staatsapparat nicht in der Lage wäre, sich dem globalen Wettbewerb zu stellen. Dieses Bewusstsein wird sich als eine mächtige Waffe gegen zentrifugale Entwicklungen erweisen.

So wie Nationalstaaten nicht neutral sind, ist es der entstehende europäische Staatsapparat schon gleich gar nicht. Die europäischen Verträge sind mehr oder weniger die einzige Verfassung der Welt, die eine recht detaillierte Wirtschaftspolitik definiert. Das sind hochideologische Texte. Die Vorgaben bezüglich des Haushaltsdefizits erschweren jede keynesianische Anstrengung. Die Institutionen an der Basis, wie die Europäische Kommission und das Parlament, sind durchlässig für alle Arten von Wirtschaftslobbyismus, auf sämtlichen Entscheidungsebenen. Aber sie sind unzugänglich für die Kontrolle der Bevölkerung. Nur die nicht gewählte Kommission kann Gesetze vorschlagen.

Seit dem Vertrag von Lissabon von 2008 haben die Abstimmungs-Systeme im Rat die Dominanz der großen Mitgliedstaaten gegenüber den kleineren verstärkt. Die Ergebnisse von Referenden gegen die Austerität, gegen den EU-Verfassungsvertrag oder gegen ein Assoziierungsabkommen werden nicht berücksichtigt. "Es kann keine demokratische Entscheidung gegen die europäischen Verträge geben", sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Die Memoiren des ehemaligen griechischen Finanzministers Yanis Varoufakis, „Die ganze Geschichte -Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment“, öffnen die Augen all derjenigen, die der Auffassung sind, dass es im Ministerrat, der zwischenstaatlichen und primären Kammer der europäischen Legislative, Handlungsspielräume geben könnte.

Sein Satz "Ich hätte genauso gut die schwedische Nationalhymne singen können" veranschaulicht die Aufmerksamkeit, die seine europäischen Kollegen den Wünschen der Bevölkerung schenken. Paul Magnette (PS), der damalige wallonische Ministerpräsident, bezeichnete die Union als einen Mechanismus zur Isolierung von Minderheitenmeinungen. Unter Druck erwies sich seine Widerstandsfähigkeit gegen das CETA-Freihandelsabkommen als kurzlebig.
Es überrascht nicht, dass die Europäische Union im Allgemeinen im Namen des europäischen Kapitals und vor allem seiner dominanten Fraktionen interveniert. Während Griechenland mit Sparmaßnahmen bombardiert wurde, wurde Deutschland nie für seine destabilisierenden Überschüsse bestraft. Als die irische Regierung dem starken Druck der Bevölkerung ausgesetzt war, den Wasserpreis zu senken, vergaß die Europäische Kommission sogar die gesetzlichen Ausnahmen zu ihrer eigenen Richtlinie, um die Regierung  gegen die Bewegung zu unterstützen.

Die Eurozone und der im Aufbau befindliche supranationale Staat sind vor allem ein politisches Projekt. Ihre Baumeister, die sich nicht auf das deutsche Kapital reduzieren lassen, kämpfen für sie. Die Durchführung bestimmter notwendiger Reformen, einschließlich einer gewissen Flexibilität, um den Euro zumindest kurzfristig zu retten, sind nicht ausgeschlossen. Die deutsche Große Koalition scheint sehr begrenzte finanzielle Unterstützungsmechanismen im Austausch für Strukturreformen nicht ausschließen zu wollen.

Die Schaffung eines Europäischen Finanzministers ist daher nicht mehr nur eine theoretische Angelegenheit.
Dies geht einher mit einer verstärkten Militarisierung der gemeinsamen Grenzkontrollen und der Integration europäischer Unternehmen und Streitkräfte. Thomas Friedman erklärte es: "Die verborgene Hand des Marktes wird nie ohne eine verborgene Faust funktionieren. McDonald's kann ohne McDonnell Douglas, den Designer der F-15 Eagle, nicht erfolgreich sein." Die Einrichtung eines Europäischen Verteidigungsfonds mit einem Europäischen Programm zur industriellen Entwicklung im Verteidigungsbereich wird Subventionen zur Stärkung eines europäischen militärisch-industriellen Komplexes bereitstellen. Im November 2017 haben mehr als 20 Staaten eine ständige strukturierte Zusammenarbeit im Rüstungsbereich eingeleitet. Frankreich hofft, aufgrund seiner relativen militärischen Stärke, dass diese Zusammenarbeit das französische Gewicht im Vergleich zu Deutschland innerhalb der EU stärken wird. Deutschland seinerseits hofft, mit dem Konzept der Rahmennation die Führung im Projekt zu übernehmen. Die Niederlande, die Tschechische Republik und Rumänien haben bereits einen Teil ihrer Streitkräfte unter deutsches Kommando gestellt.

Die Notwendigkeit eines europäischen Umbruchs

In gewisser Weise teilen sich die Exit-Anhänger und Reformisten der EU entgegengesetzte Stärken und Schwächen. Gegen reformistische Illusionen bestehen die Befürworter eines Ausstiegs zu Recht auf dem notwendigen Bruch mit den EU-Verträgen. Indem sie Illusionen über eine Rückkehr in die Nationalstaaten entgegenwirken, haben die Reformisten der EU Recht, wenn sie eine europäische Perspektive vorschlagen. Beide Argumente weisen jedoch jeweils erhebliche Mängel auf. Einerseits konzentrieren sie sich beide auf die Regierung und nicht auf die Macht, und des weiteren spielen sie die Bedeutung von Gegenmacht und außerparlamentarischem Handeln herunter. Andererseits fehlt es meist an Ambitionen wodurch als Perspektive lediglich ein besseres Management des Kapitalismus angeboten wird.

Lassen Sie uns klarstellen: Ohne einenBruch werden wir nicht in der Lage sein, die vielen Krisen zu bewältigen, die unser tägliches Leben stören. Die Ontologie des europäischen Staatsapparates lässt keinen Zweifel aufkommen. Das europäische Kapital baut einen Staatsapparat, um größere Anteile an der Beute der Welt zu erhalten. Die derzeitigen europäischen Verträge und Institutionen garantieren die Kontrolle der großen Unternehmen über die Entscheidungsfindungen auf allen Ebenen, bereiten ein interventionistisches "Verteidigungssystem" vor und ertränken jeden Protest gegen das System in einer unendlichen Anzahl von Ausschüssen und Kommissionen, Sitzungen und Institutionen. Die Klimakrise liegt in den Händen der Marktwirtschaft. Syriza war gezwungen, nahezu das Gegenteil ihres Programms durchzuführen. Die sozialdemokratische Phantasie, die EU in ein Werkzeug der Arbeitswelt zu verwandeln, verdeckt den Klassencharakter der bestehenden Institutionen, statt das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Gegenmacht zu schärfen. Ein wirklich anderes Europa erfordert sehr unterschiedliche Grundlagen und Institutionen.

Eine sozialistische Strategie besteht darin, das Gefühl zu nähren und zu verstärken, dass ein Bruch notwendig ist. Die Grundbedürfnisse der Menschen befinden sich im Konflikt mit dem kapitalistischen System selbst, und die Position sowie organisatorische Kraft der Arbeiterklasse muss im Laufe der Zeit gestärkt werden. Ohne den Aufbau einer Gegenmacht ist ein grundlegend anderes Europa nicht vorstellbar. Wir sollten auf die Aspekte der gramscianischen Strategie der Gegenmacht konzentrieren, die Nikos Poulantzas unterschätzt oder beseitigt hat. (21) Wie Kevin Ovenden es ausdrückte: "Wir müssen angesichts eines Staates "die Bedeutung einer wirklich radikalen Politik finden, die den Staat und alle damit verbundenen Widersprüche nicht vermeidet, sondern eine "Gegenpolitik" bietet, einen Weg zwischen unpolitischer Bewegung und reformistischem Parlamentarismus". Mit anderen Worten muss der Weg zurück zum Klassenkampf gefunden werden, den die Toskana-Fraktion auf Eis gelegt hat.

Im Idealfall würde eine einfache, aber kraftvolle Geschichte  den Wunsch nach einem radikal anderen Europa zum Ausdruck bringen. Bernie Sanders "politische Revolution", der Aufruf zum Sozialismus 2.0 oder die italienische Kampagne Potere al popolo (die Macht den Menschen) drücken mit knappen Worten die Notwendigkeit nach Veränderung aus. Die Forderungen nach einer Demokratisierung der Europäischen Union erscheinen vergleichsweise schwach. Das wird nicht ausreichen. Der Aufbau einer Gegenmacht erfordert eine aktive Beteiligung an einer Vielzahl von gewerkschaftlichen Bewegungen und sozialen Kämpfen. Das ist wichtig, um deutlich zu machen, dass ein völlig anderes Europa erforderlich ist. Konkrete Forderungen und Kampagnen zum Sensibilisieren in Bezug auf das Funktionieren und den Klassencharakter des derzeitigen Systems sind erforderlich. Eine Kampagne für eine echte Vermögenssteuer kann beispielsweise bestimmten Klassenwidersprüchen einen zentralen Platz einräumen. Warum zahlt ein multinationaler Konzern weniger Steuern als seine Putzkräfte? Oder warum sollen die öffentlichen Renten gesenkt werden, wenn die Reichen kaum Steuern zahlen? Das sind einfache Fragen, die sich jedoch grundlegend von den Reformvorschlägen unterscheiden, die sich weigern, die Konzentration des Reichtums ins Visier zu nehmen.
Die Siege der sozialen Bewegungen zeigen, dass sich Mobilisierung und Kampf auszahlen. In diesem Zusammenhang erhält auch die parlamentarische Arbeit eine ganz andere Bedeutung. Es ist wichtig, die Stimme der sozialen Bewegungen vor den Türen des Parlaments zu Gehör zu bringen, aber das reicht nicht aus. "Viele Träume sind vor deiner Haustür angekommen. Sie bleiben und sterben", sang Nat King Cole so klug zu seiner Mona Lisa. Die Arbeit der Parlamentarier der radikalen Linken dient der Stärkung dieser Gegenmacht. Die Abgeordneten bringen die Kämpfe der Arbeiter in die parlamentarische Arena und kehren dann zu den Bürgern zurück, um sie zu informieren und die Gegenmacht zu stärken. Ohne den allgegenwärtigen Parlamentarismus zu stärken, kann die radikale Linke so einen glaubwürdigen Weg zu einem echten Wandel beschreiten.

Gleichzeitig erfordert ein Umbruch unbedingt zumindest eine europäische Perspektive. Eine Gegenmacht in einem einzigen Land wird zerschlagen. Angesichts der europäischen multinationalen Unternehmen erfordert der Klassenkampf bereits heute eine solche europäische Dimension. Hätten die Piloten von Ryanair ihr Recht auf gewerkschaftliche Vertretung ohne die Androhung eines europäischen Streiks einfordern können? Würde das Werk Audi Forest ohne die Solidarität der deutschen Arbeiter existieren? Wie wäre der Status der Hafenarbeiter heute ohne ihre europäische Bewegung? Was für den Klassenkampf gilt, gilt erst recht für den Aufbau einer völlig anderen Gesellschaft. Ein belgischer 2.0-Sozialismus inmitten eines feindlichen europäischen Kontinents wäre nicht nachhaltig. Auch wenn dieser Staat dem äußeren Druck standhalten würde, könnten grundlegende Fragen, die vom Klimawandel bis zur Aufnahme von Flüchtlingen reichen, nicht gelöst werden.
Diese europäische Strategie macht es unerlässlich, die Interaktion und Koordination zwischen den Parteien der echten Linken auf europäischer oder subeuropäischer Ebene zu stärken und zu intensivieren. Andererseits bedeutet es nicht, die nationalen Kämpfe aufzugeben. Initiativen, die von der lokalen Realität abgekoppelt sind, werden die Feldarbeit niemals ersetzen. Im Gegenteil, die Veränderung des Machtgleichgewichts innerhalb jedes Landes wird unerlässlich sein, um die Voraussetzungen für den Wandel auf dem gesamten Kontinent zu schaffen. Auf diese Weise kann ein grundlegend anderes Europa aufgebaut werden, frei von Marktfundamentalismus und dem Autoritarismus des Großkapitals.

Eine längere Version dieses Artikels wird in Kürze in Catalyst im Rahmen einer Europa-Debatte unter anderem mit Bernd Riexinger, Costas Lapavitsas und Cédric Durand erscheinen.

Übersetzung: Christine Reinicke

  1. Ferdi De Ville, « En nu, sociaaldemocraten in Europa ? », 22 juillet 2015, www.poliargus.be/en-nu-sociaaldemocraten-in-europa/.

  2. Cédric Durand, « La Unión Europa no es un campo de batalla », Madrid, 20 février 2016, https ://www.vientosur.info/spip.php ?article11030. Traduction en français sur le site Alencontre, http ://alencontre.org/europe/debat-lunion-europeenne-nest-pas-un-champ-de-bataille-cest-une-prison.html.

  3. J. Stiglitz, The Euro : How a Common Currency Threatens the Future of Europe, W.W. Norton & Company, New York, 2016.

  4. M. Davidson, « Wolfgang Streeck : The euro, a political error », 29 juillet 2015, https ://www.versobooks.com/blogs/2146-wolfgang-streeck-the-euro-a-political-error.

  5. F. Lordon, Pour une monnaie commune sans l’Allemagne ( ou avec, mais pas à la francfortoise ), Les blogs du « Diplo », 25 mai 2013, https ://blog.mondediplo.net/2013-05-25-Pour-une-monnaie-commune-sans-l-Allemagne-ou-avec.

  6. C. Lapavitsas et al., Crisis in the Eurozone, Verso, Londres, 2012, p. 223.

  7. C. Lapavitsas, « For a Class-Based Strategy of the Left in Europe », Catalyst : A Journal of Theory and Strategy, 3.

  8. F. Wilde, « Winning Power, Not Just Government », Jacobin Magazine, 18 avril2017, https ://www.jacobinmag.com/2017/04/left-parties-government-elections-socialist-politics/.

  9. Voir les exemples récents de C. Lapavitsas et T. Mariolis, « Eurozone failure, German policies, and a new path for Greece », mars 2017, https ://www.rosalux.de/en/publication/id/14546/eurozone-failure-german-policies-and-a-new-path-for-greece/ ou de C. Durand et S. Villemot, « Balance Sheets after the EMU : an Assessment of the Redenomination Risk », 10 octobre 2016, https ://www.ofce.sciences-po.fr/pdf/dtravail/WP2016-31.pdf.

  10. Y. Varoufakis et J. K. Galbraith, « Why Europe Needs a New Deal, Not Breakup », The Nation, 23 octobre 2017, https ://www.thenation.com/article/why-europe-needs-a-new-deal-not-breakup/.

  11. P. De Grauwe, « The Catalan crisis and Brexit stem from the same kind of nationalism », 4 octobre 2017, http ://escoriallaan.blogspot.be/2017/10/catalonia-and-brexit-same-nationalism.html.

  12. K. Ovenden, Syriza, Pluto Press, Londres, 2015, p. 104-132.

  13. T. Auvray & C. Durand, « Un capitalisme européen ? Retour sur le débat Mandel-Poulantzas », dans J.-N. Ducange & R. Keucheyan, La Fin de l’État démocratique, Presses universitaires de France, Paris, 2016, p. 142-161 ( 159 ).

  14. H. Flassbeck & C. Lapavitsas, Against the Troika, Verso, Londres, 2015.

  15. G. Paelinck, « Puigdemont komt spreken bij N-VA Leuven “ over hoe socialistische hegemonie te doorbreken ” », VRT News, 5 janvier 2018, https//www.vrt.be/vrtnws/nl/2018/01/05/puigdemont-komt-spreken-bij-N-VA-leuven—over-hoe-socialistische/

  16. Comparer dans ce sens F. Lordon, La malfaçon : Monnaie européenne et souveraineté démocratique, Les liens qui libèrent, Paris, 2014.

  17. T. Auvray & C. Durand, op. cit., p. 142-161.

  18. Même s’il est clair que le capital allemand essaie de mener la danse et y réussit largement.

  19. B. Van Apeldoorn, « The European Round Table of Industrialists : Still a Unique Player ? » dans J. Greenwood, The Effectiveness of EU Business Associations, Palgrave, Basingstoke, 2002, p. 194-206.

  20. B. Balanyá, A. Doherty, O. Hoedeman, A. Ma’anit & E. Wesselius, Europe Inc. Regional and Global Restructuring and the Rise of Corporate Power, Pluto Press, Londres, 2000, p. 49.

  21. N. Poulantzas, L’État, le pouvoir, le socialisme, PUF, 1978.