»Politik der Doppelmoral ist widerwärtig«

Interview
Author
Nick Brauns
www.jungewelt.de

Belgien: Partei der Arbeit an der Seite der Palästinenser und der Emanzipationskämpfe des globalen Südens. Ein Gespräch mit Peter Mertens
Von Nick Brauns, Brüssel, junge Welt, 22.11.2023

peter mertensAuf den Demonstrationen zur Solidarität mit dem palästinensischen Volk in Belgien sind die Fahnen und Banner der Partei der Arbeit (PvdA/PTB) deutlich sichtbar. Was ist die Position Ihrer Partei zum Krieg in Gaza?

Wir organisieren diese Demonstrationen in Belgien natürlich mit. Es findet gerade eine ethnische Säuberung gegen das palästinensische Volk in Gaza statt. Diese geht mit großen Opfern unter der Zivilbevölkerung, unter Kindern, mit der Zerstörung von ziviler Infrastruktur wie Krankenhäusern im großen Ausmaß einher. Es ist ein live im Fernsehen übertragener Krieg der Vernichtung. Und es ist nicht nur ein Krieg gegen die Palästinenser, sondern in gewisser Weise auch ein Krieg gegen das Völkerrecht, denn Länder wie Israel glauben offensichtlich, über den Gesetzen zu stehen.

Woran machen Sie das fest?

Es gibt 104 Resolutionen der Vereinten Nationen zu Israel, die den Apartheidstaat, die Besatzung, die Siedlungspolitik, die illegale Kriegführung gegen Zivilisten und zivile Infrastruktur verurteilen. Doch es geschieht nichts deswegen. Dagegen konnten wir sehen, dass bereits einen Monat nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Putin vorlag, wegen der Vertreibung von 6.000 Kindern, was als Kriegsverbrechen verfolgt wird. Israel hat jetzt 5.000 Kinder in Gaza getötet, und es wurde noch nicht einmal eine wirkliche Untersuchung dazu eingeleitet. Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, hat Ende Oktober Rafah an der Grenze zu Gaza besucht, aber wo bleiben die Haftbefehle gegen Netanjahu und die Führung der israelischen Armee? Während sofort ein Rüstungsembargo gegen Russland verhängt wurde, besteht kein solches Embargo der Europäischen Union gegen Israel. In der EU wird derzeit über das elfte Sanktionspaket gegen Russland diskutiert, doch gegen Israel gibt es keine solchen Sanktionen. Diese Politik der Doppelmoral ist einfach widerwärtig.

Wofür tritt Ihre Partei in dieser Situation ein?

Es ist an der Zeit, der Straflosigkeit Israels ein Ende zu setzen. Wir haben vier Sofortforderungen an die belgische Regierung: Wir wollen, dass Belgien eine Klage gegen Netanjahu beim Internationalen Gerichtshof einreicht, denn das kann nur eine Regierung machen. Das präferenzielle Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und Israel muss ausgesetzt werden. Wir wollen, dass der belgische Botschafter aus Israel abberufen wird. Und wir verlangen die Verhängung eines vollständigen Rüstungsembargos gegen Israel – auch im Parlament habe ich mit dieser Forderung interveniert. Um einen Waffenstillstand zu erzwingen, muss unser Land den Transit von militärischer Ausrüstung nach Israel blockieren. Die Gewerkschaften in Belgien haben ja bereits beschlossen, keine Schiffe oder Flugzeuge mit Waffenlieferungen für Israel zu be- oder entladen. Denn es gilt Solidarität mit Palästina zu zeigen, nicht mit Worten, sondern mit Taten.

Besteht dieser Beschluss der Gewerkschaften also nicht nur auf dem Papier, sondern wird tatsächlich umgesetzt?

An den Flughäfen werden solche Lieferungen tatsächlich gestoppt. Aber die Transportarbeiter wissen nicht bei jedem Container, was sich darin befindet. Deswegen müssen wir deutlich machen, dass wir alle Informationen darüber brauchen. Die Gewerkschaften müssen umfassend darüber informiert werden, ob Belgien weiterhin Waffen nach Israel liefert oder nicht. Die öffentliche Meinung hat sich hier sehr zugunsten der Solidarität mit dem palästinensischen Volk verändert. Das ist eine ganz große Sache.

Welche Haltung nehmen die aus sieben Parteien gebildete belgische Regierung und die Opposition zum Nahostkonflikt ein?

Die Regierung ist in dieser Frage zur Zeit gespalten. Es gibt in ihr Kräfte, die für einen sofortigen Waffenstillstand plädieren. Und sie hat letzte Woche beschlossen, dem Internationalen Strafgerichtshof fünf Millionen Euro zur Untersuchung von Kriegsverbrechen zur Verfügung zu stellen, was eine gute Sache ist. Doch die französischsprachigen Liberalen als zweitstärkste Partei in der Regierung nehmen eine sehr proisraelische Position ein. Auch die größte flämische Partei, die NVA, positioniert sich innerhalb der Opposition offen und klar für Israel.

An den Büros der Partei der Arbeit hängen derzeit demonstrativ Palästinafahnen. Das ist ein deutlicher Kontrast zur deutschen Linkspartei und ihrer Abspaltung, dem Bündnis Sahra Wagenknecht, die sich mit einer solchen sichtbaren Solidarisierung schwertun und immer wieder das Recht Israels auf Selbstverteidigung gegen die Hamas betonen.

Kürzlich ist mein neues Buch »Meuterei – wie die Welt kippt« über die veränderte Stellung des globalen Südens gegenüber dem imperialistischen Lager um die Vereinigten Staaten erschienen. Darin habe ich fünf Wendepunkte zwischen 1991 und 2022 beschrieben. Gerade erleben wir einen sechsten Wendepunkt in der Art und Weise, wie die Welt auf Europa und die USA blickt. Wenn wir die eurozentrische Sichtweise hinter uns lassen, dann sehen wir, dass der globale Süden mit einer vereinten Stimme spricht, um Palästina zu unterstützen. Asien, Afrika, Südamerika, die Karibik sind sich auch einig in der Verurteilung der Heuchelei Europas, das zwar alle belehrt und ihnen vorzuschreiben versucht, wie sie über den Russland-Ukraine-Krieg abzustimmen haben, aber Israel alles durchgehen lässt. Dabei geht es nicht nur um Israel und Palästina, sondern auch um das Völkerrecht und die Position Europas und der USA in dieser Weltordnung, die ihrem Ende entgegengeht. Deshalb meine ich, dass jede fortschrittliche Kraft in Europa sich auf die Seite der Kräfte des Südens stellen muss, bei der Verteidigung ihrer Souveränität und ihres Rechts auf Widerstand gegen den Imperialismus. Das ist auch wichtig für die europäischen Völker selbst. Denn es kann keine Freiheit für die Arbeiterklasse in Europa, in Belgien geben, solange die EU weiterhin Kolonialismus befördert und Waffen exportiert. Darum gibt es diesen Aufruf aus der belgischen Arbeiterklasse, von den Gewerkschaften, in dem es heißt, wir wollen nicht an einem Völkermord beteiligt sein.

In Deutschland und auch in Frankreich gibt es starken Druck auf die dort lebenden Palästinenser und die Solidaritätsbewegung – bis hin zu Organisations- und Demonstrationsverboten. In der BRD sehen sich schon Menschenrechtsaktivisten, die sich für einen Waffenstillstand einsetzen, als Hamas-Anhänger diffamiert. Ist etwas Derartiges auch in Belgien zu beobachten?

Nein, nicht auf dem gleichen Niveau. Belgien ist ein kleines Land zwischen Frankreich und Deutschland, und die belgische Rechte würde gerne die Politik dieser Länder in dieser Frage übernehmen. Ich glaube aber nicht, dass sie damit Erfolg haben wird. Denn der Druck, diesen völkermörderischen Krieg zu beenden, ist einfach zu groß, die Proteste sind zu stark. Auch auf der demokratischen Ebene, in den Universitäten, bei den Gewerkschaften gibt es hier einen Unterschied zu Deutschland und Frankreich. Und die Medien haben hier ihre rote Linie – die täglichen Kriegsverbrechen in Gaza werden jetzt dokumentiert und können nicht mehr gerechtfertigt werden. Dass es bei uns eine Presse gibt, die immer noch über diese Kriegsverbrechen berichtet, führt bei der israelischen Botschaft zu Verärgerung. Die Botschaft wollte im Parlament einen Film über die Angriffe der Hamas vom 7. Oktober zeigen, aber das wurde abgelehnt, denn es ist schließlich das belgische Parlament und nicht das von Israel oder den USA. Es gibt hier natürlich großen Druck durch die Botschaften Israels und der USA. Aber wenn Souveränität als Wort noch eine Bedeutung hat, dann muss man natürlich souverän sein gegenüber diesem Auftreten der Vereinigten Staaten und Israels.

Wir sprechen uns hier am Rande des Internationalen Tribunals gegen die US-Blockade gegen Kuba im EU-Parlament. In Ihrem Grußwort haben Sie Gemeinsamkeiten zwischen den Angriffen auf Kuba und Palästina betont. Worin bestehen diese?

Bei der letzten Abstimmung der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 2. November haben 187 Länder für die Aufhebung der illegitimen und kriminellen Blockade gegen Kuba votiert. Unter allen Ländern der Welt haben die Vereinigten Staaten nur noch einen Staat, nämlich Israel, gefunden, der sie gegen Kuba unterstützt. Nur ein Apartheidstaat, der seit Jahren eine illegale Blockade gegen den Gazastreifen durchsetzt, steht auf der Seite Washingtons. Kriegstreiber wie die Vereinigten Staaten und Israel sind zunehmend isoliert und sehen sich einer wachsenden Stimme gegenüber, die die Einhaltung des Völkerrechts und ein Ende der heuchlerischen Politik der doppelten Standards fordert.

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